Selbstbildnis, 1912 |
Ich bin ja nur Journalist. Mein Artikel in der “Schweizer Familie” ist soeben erschienen, Mit diesem Post verbreite ich vielleicht ein paar Legenden mehr. Doch Legenden sagen just im Fall Hodler mehr aus, als sich professionelle Kunsthistoriker ausdenken können.
Zum Beispiel warten eine Frau und ein Mann an der Rue du Grand-Bureau in Genf auf ein Taxi. Der Mann zeigt auf das Haus vis-à-vis. “Weisst Du, wer dort im Atelier arbeitet?”, und antwortet gleich selber. “Ein sonderbarer Kauz von einem Maler, ein Kerl ohne Bildung und Erziehung, ein ungeleckter Bär. Jeden Tag eine andere Frau. Braune, rote, blonde, junge, alte. Er sagt, das seien Modelle, aber selbst die Hässlichsten sind willkommen. Er glaubt, der grösste Maler der Welt zu sein, nur weil er viel Geld verdient hat. Ein Rohling! Geh nur nie da hinein!”
Der Mann und die Frau, sie beide wissen, während sie vor hundert Jahren auf das Taxi warten: es ist zu spät. Bereits geht die Frau ein und aus. Nicht als sein Modell, und wenn sie seine Geliebte wäre, wüsste sie, mit wem sie es zu tun hat.
Stéphanie Guerzoni, so heisst die Frau, ist seine Schülerin, die sich als Malerin nie einen Namen machen wird. Wer heute nach ihr sucht, findet nur ein bleibendes Werk. Kein Bild, dafür ein Buch: “Ferdinand Hodler als Mensch, Maler und Lehrer.”
Was seine Schülerin an ihrem Lehrer besonders schätzt, ist sein “fröhlicher Schalk”. Jetzt gerade, beim Warten auf das Taxi, plappert er daher, was alle Leute sowieso über ihn herum erzählen. Nämlich genau dasselbe. Dass er nur noch fürs Geld arbeite, ein Schürzenjäger sei, beides am liebsten miteinander verbinde, das Malen mit dem Lieben, die Modelle mit seinen Frauen. Was ja alles stimmt, von bürgerlichen Moralvorstellungen hat sich Ferdinand Hodler längst befreit. Dazu steht er, darauf ist er stolz. Ein Outlaw in der Schweizer Landschaft, der es von ganz unten nach ganz oben schafft.
Weltberühmt ist er noch zu seinen Lebzeiten. Dreifacher Millionär, das verschweigt er nicht, im Gegenteil, schliesslich hat er seine drei Millionen mit nichts verdient als seiner Kunst. Welcher andere Schweizer Künstler vor ihm hat das je behaupten können?
“Komplimente”, sagt Hodler zu seiner Schülerin Stéphanie Guerzoni, sind zu billig. “Erst wenn ein Amateur das Portemonnaie hervor nimmt, um Ihnen ein Bild abzukaufen, sind Sie sicher, dass es ihm gefällt.”
Er ist jetzt 65 und ahnt, aufs Taxi wartend, dass er nicht mehr viel Zeit hat. Als Sterbebegleiter kennt er sich aus in solchen Fragen. Sämtliche nächsten Verwandten hat er verloren. Seine beiden liebsten Geliebten, die zugleich die Mütter seiner beiden Kinder sind, hat er bis zuletzt gemalt. Als Leidende, Sterbende, Tote. Vor seinem eigenen Ende fürchtet er er sich nicht, schreibt seine Schülerin Stéphanie Guerzoni. “Was ihn quälte, war nur der Gedanke an die Werke, die er bereits geplant hatte, aber nicht mehr vollenden konnte”.
Denn je älter Hodler wird, umso besessener produziert er. “Serienweise”, klagen Leute, die nicht begreifen wollen, was ihn antreibt: die ständige Schöpfung des Gleichen. Drei, vier, fünf Frauen in einer Reihe tanzend, arme Teufel neben armen Teufeln, Bergketten hinter Bergketten, gern symmetrisch, oft parallel geordnet, um ein neues Ganzes zu komponieren. “Unter ‘Parallelismus’ verstehe ich jegliche Art der Wiederholung”, doziert Hodler.”Das Wort “Parallelismus” gab es zwar schon vor ihm, jetzt ist er der wichtigste Vertreter dieser Kunstrichtung.
Blick ins Unendliche, 1916 |
So wie er malt, so lebt er. Wiederholend. Parallelistisch. Ein Womanizer? Ach bitte. Jedes zweite Mal steigert die Lust auf das dritte Mal, und zwar in jeder Beziehung. Noch vor seinem 50. Geburtstag hat er 200 Ausstellungen hinter sich. Nach jedem Preis, den er gewinnt, dürstet er nach dem nächsten Preis. “Er war ein leidender Mensch”, charakterisierte ihn sein Künstlerkollege Cuno Amiet. “Seinen ganzen Ehrgeiz setzte er darein, obenauf zu kommen, zu dominieren. Von Bild zu Bild, von Jahr zu Jahr intensiver.” Die heutige Nationalfonds-Präsentation mit dem Symposium im Kunstmuseum Bern zu seinem morgigem hundertsten Todestag hätte er genossen aus vollen Zügen.
Denn es ist keine heile Welt, in die Ferdinand Hodler am 14. März 1853 hinein geboren wird. Von seinem Vater, Schreiner von Beruf, hat er nur eine dumpfe Ahnung. “Ich habe ihn nie lachen sehen, und seine manchmal fast finstere Verschlossenheit liess keine Fröhlichkeit aufkommen”, sagt Ferdinand Hodler zu seinem eigenen Biografen und Freund Carl Albert Loosli.Ihm vertraut Hodler alles an, wohl wissend, dass sich das meiste davon zu Legenden verfestigen wird.
Die Hodler-Familie zieht von Bern nach La-Chaux-de-Fonds, wo Vater Johann Hodler einen eigenen Betrieb aufbaut und konkurs geht. “Er litt an Schwindsucht und war oft erwerbsunfähig.” Die Diagnose “Schwindsucht” wird heute Tuberkulose genannt, früher auch “weisse Pest” oder “Krankheit des Proletariats”, zu dem sich der Maler Hodler zählt. Nicht im marxistischen Sinn, sondern im gesellschaftlichen: “Lumpenprolet”, urteilt der spätere Hodler über den früheren Hodler.
Als sein Vater stirbt, ist Ferdinand sieben - aber damit bereits das älteste von fünf noch lebenden Kindern. Das sechste ist schon vor dem Vater gestorben, Tuberkulose.
Die Mutter heiratet wieder: den 14 Jahre älteren Gottlieb Schüpbach, der seinerseits fünf Kinder in die Ehe einbringt. Das neue Paar zeugt drei weitere, so dass eine 13-köpfige Kinderschar zusammen wächst, die Gottlieb Schüpbach, Dekorationsmaler von Beruf, kaum ernähren kann. Zumal er, feuchtfröhlicher Natur, gern in Beizen verkehrt. “Seine heitere Laune, seine Einbildungskraft waren einfach unerschöpflich. Wo er sich am Wirtshaustisch oder sonst in Gesellschaft zeigte, verstummte jedermann; man liess ihn reden”. Weil alle ihm zuhören wollen, Schüpbach, dem prächtigen Unterhalter.
Ferdinand Hodler lernt auch Schüpbachs anderen Facetten kennen. “Er steckte immer voller Pläne, aber er hatte fortwährend Pech. Was er auch anfangen mochte, missriet ihm.”
Die Hodler-Schüpbach-Grossfamilie wohnt zuerst im damaligen Armenviertel der Stadt Bern, dem Quartier Matte unten an der Aare mit 330 Tuberkulose-Toten im Jahr 1856. Immerhin hat Ferdinand Hodler auch frohe Erinnerungen. “Es freut mich noch jetzt, wenn ich daran denke, wie ich als Bube, wie es noch heute bei Kindern armer Leute üblich ist, ins Grauholz oder in den Muriwald auszog, um dürres Brennholz zu sammeln,” zitiert ihn Loosli.
Dann erkrankt die Mutter, einfache Köchin und Landsfrau. Schon wieder Tuberkulose. Ferdinand schläft im gleichen Zimmer, hört sie in der Nacht leiden und schreien. Am Morgen steht sie trotzdem immer auf und singt tagsüber sogar heitere Lieder. Manchmal spielt sie auf ihrer Mundharmonika; das wird ihr ihr ältester Sohn später auch tun, wenn er munter mit Freunden zusammen sitzt.
Eines Mittags bricht die Mutter auf einem Acker der Allmend Thun tot zusammen. Die Kinder sind mit dabei, als die Leiche aufgeladen und nach Hause gekarrt wird. Ferdinand, jetzt 14, erlebt als Ältester eine traumatische Beerdigung: “Wir waren damals miserabel arm. Auf einem gewöhnlichen Karren wurde der rohe Sarg auf den Friedhof gefahren, und als Leichengeleite tippelten wir Kinder, meine Geschwister und ich, allein hinterher. Dieses Bild ist mir mein Leben lang scharf und treu vor Augen geblieben”.
Gegenüber seinem Biografen Loosli fasst er seine Kindheit kurz und bündig zusammen: “In der Familie war es ein allgemeines Sterben. Mir war schliesslich, als wäre immer ein Toter im Haus und als müsste es so sein.”
Die Transformation vom Pulsierenden zum Erstarrenden habe er bei seiner Mutter hautnah zu spüren bekommen, deutet Stéphanie Guerzoni an. Mit eigenen Händen habe er mithelfen müssen, die Frischtote auf den Karren zu heben. Auch wenn das “nur” eine Legende wäre, bliebe es ein Fall für Psychoanalytiker.
Gottlieb Schüpbach, nun zum zweiten Mal verwitwet, hält es nicht mehr aus und haut ab nach Boston in die USA zu seinem eigenen ältesten Sohn. Die drei noch lebenden Hodler-Kinder - zwei sind in der Zwischenzeit gestorben, beide an Tuberkulose - werden beim Bruder der Hodler-Mutter untergebracht: beim kinderlosen, armen Schuster Friedrich Neukomm in Langenthal.
Für seinen pubertierenden Stiefsohn findet Schüpbach eine bessere Lösung. Er vermittelt Ferdinand Hodler zu Ferdinand Sommer, ebenfalls einem Dekorationsmaler in Thun, der sich “Kunstmaler” nennt.
“Immerhin lernte ich dort das Praktische und Handwerksmässige ziemlich gründlich und schaffte mit grosser Lust”, sagt Hodler später zu Loosli. “Ich erinnere mich, bei einem Spengler, bei dem ich eine Weile verkostgeldet war, Möbel und Blechwaren, so gut es eben gehen wollte, nachgezeichnet zu haben. Unternehmenslustig war ich eigentlich immer.”
Gleichzeitig kreiert er spielerisch sein erstes Rezept zur Landschaftsmalerei: Man bücke mit gespreizten Beinen den Oberkörper tief herunter, schaue mit umgekehrtem Kopf zwischen den Beinen hindurch - und erlebe eine “Sensation”: das Abendrot brennt glühender, alle Farben leuchten auf, die Berge zittern und bohren sich förmlich in den Himmel hinein. “Ich war berauscht von der Schönheit dieser Landschaft”. Im Suff der Bilder vergisst er gar die leibliche Not: “Die gewaltige Kraft der Stockhornkette, des Niesens, des leuchtenden Hochgebirges fesselten mich dermassen, dass ich gar nicht mehr ans Essen und Trinken dachte”.
Thunersee mit Blüemlisalp, 1912 |
Sein Leben lang kehrt er immer wieder zurück an den Thunersee, die Stockhornkette malt Ferdinand Hodler allein im Laufe seines 60. Lebensjahres siebzehn Mal. Während dieser zwölf Monaten erholt sich seine damalige Geliebte Valentine Godé-Darel in Hilterfingen am Thunersee. Schwach ist sie, kurz nach der Geburt ihrer gemeinsamen Tochter Paulette. Hodler fürchtet, sie habe Tuberkulose - es ist Krebs im fortgeschrittenen Stadium. Hodler zeichnet und malt sich in den Wahn. 17 mal den “Thunersee mit Stockhornkette”. Tausend mal seine Geliebte Valentine Godé-Darel,schwächelnd, sterbend. Das ist sicher seine eindrücklichste “Serienproduktion”, eine Sternstunde des Kunstgeschichte, zuletzt bewundert im Prefectural Museum of Art Hyogo (Japan).
Auch die 17 Stockhorn-Gemälde machen ihre Runden. Eines kam letzte Weihnachten unter den Hammer: im Auktionshaus Sotheby’s in Zürich für 4,3 Millionen Franken.
In der der Lehre beim Maler Sommer fertigt Hodler noch schlichte Ansichtskarten, die so schön sind, dass er sie an Touristen verkaufen kann. Schlimm für den Lehrling ist, dass er die Berge nicht so malen darf, wie er sie selber wahrnimmt. Er muss sie abmalen - von Ferdinand Sommers Vorlagen. Ansonsten beobachtet er Käfer, Schmetterlinge und sammelt Bergkristalle. Eigentlich wollte er Naturforscher werden, doch verbrieft ist das nicht.
Die Malerlehre jedenfalls bricht er ab. “Eines Tages übertrug mir Sommer das Bemalen einer seidenen Fahne und schärfte mir ganz besonders ein, ja recht sorgfältig zu arbeiten und keine Flecken zu machen, damit der Stoff nicht verdorben werde, sonst setze es etwas ab”. Prompt patzt der Lehrling. “Ich getraute mich nicht, dem Meister noch einmal unter die Augen zu kommen und brannte durch, ohne mich zu verabschieden.”
Nach Langenthal flüchtet er zum Onkel, dem armen Schuster Neukomm, der sich schon um die anderen Hodler-Kinder zu kümmern hat. Ferdinand tut, was er gelernt hat: Er fertigt Bildchen, die er “Helgeli” nennt, in der Papeterie verkauft und als Teenager mit “F. Hodler” signiert. 60 Rappen bis einen Franken kostet das Stück, für damalige Verhältnisse nicht billig.
Schuhmacher Friedrich Neukomm, 1881 |
In der Schule hat Ferdinand Mühe. Als ihn der junge Lehrer vor dem Onkel beschimpft, wehrt sich der Bub frech: “Sie werden immer noch ein dummer Schulmeister sein, wenn ich schon längst ein berühmter Maler bin!” - Oder ist das bloss eine Legende?
Mit 18 packt er das Bünteli, wandert mit 85 Franken im Sack Richtung Genf, hilft mal hier, mal dort auf einem Hof, spart sich das Essen vom Maul ab und tauscht die letzten Münzen gegen Pinsel und Farben. Er solle sich zuerst neue Schuhe und neue Kleider posten, weist ihn der Rektor eines Gymnasiums in Genf ab.
Hodler antwortet, er habe so viel Positives gehört vom Zoologen und Geologen Carl Vogt, dem Professor an der Universität Genf. Da hat der Gymi-Rektor einen Rat parat: er solle sich an der Uni als Hörer einschreiben.
An diesem Punkt stellt sich natürlich die Frage: Woher kennt ein magerer Volksschüler, Vollwaise, aufgewachsen und verkostgeldet im ländlichen deutschschweizer Handwerker-Milieu, den Herrn Professor Carl Vogt von der Université de Genève?
Von einem Freund aus noblem Langenthaler Haus. Friedrich Bützberger. sieben Jahre älter als Hodler, studiert Jus und wohnt in einer Villa. Friedrichs Vater Johann Bützberger ist Richter, im Militär Oberst, 37 Jahre lang Nationalrat. In seinem Zuhause liegen Bücher herum, auch Zeitschriften über Kunst, die den jugendlichen Hodler nachhaltig verwirren. “Die ästhetischen Schriften führten mich immer wieder auf Abwege. Sie sind einfach gefährlich und sollten von Künstlern, wenn überhaupt, erst dann gelesen werden, wenn sie so gefestigt sind, dass sie ihnen nichts mehr anhaben können”, sagt er zu Loosli.
Trotzdem wird er in Bützbergers Bibliothek fündig: “Das einzige Buch, das mir wirklich Brauchbares bot, waren ‘Die Elemente der Geometrie Euklids’.” Eine fremde, reizende Welt. “Bei Euklid lernte ich zu verstehen, dass alles, auch Form und Farbe, auf Gesetzmässigkeiten beruhen, die mir unbekannt waren, und die ich, wollte ich vorwärts kommen, zu ergründen und mir anzueignen hatte”. Es gibt Kunsthistoriker, die von höherer Mathematik keine Ahnung, aber zur Legendenbildung beigetragen haben: Hodlers “Parallelismus” sei der Geometrie Euklids entsprungen.
Er selber erklärt es plastisch: „Ist eine Erscheinung angenehm, so wird ihre Wiederholung den Reiz verstärken; drückt sie Trauer oder Schmerz aus, wird das Leiden durch die Wiederholung ebenfalls vermehrt. Ist dagegen ein Gegenstand lächerlich oder unanständig, so wird er durch die Wiederholung unerträglich.“
Der Vater Bützberger gibt ihm ziemlich sicher etwas Zusätzliches mit auf den Weg nach Genf: sein Beziehungsnetz.
Von sich allein käme der ärmliche jugendliche Wanderer kaum auf die Idee, beim Rektor eines vornehmen Gymnasiums anzuklopfen. Zufällig würde er kaum den französischen Musiker Henri Giroud kennenlernen. “Er hat sich meiner als Freund in der Not angenommen und ich wohnte in Genf nahezu ein ganzes Jahr bei ihm”, zitiert ihn Loosli. “Das erlaubte mir, mich nun ausschliesslich mit meiner künstlerischen Ausbildung zu befassen. Leider fehlte es mir an richtiger Anleitung. Ich begann als Autodidakt, unerfahren und, wenn auch nicht planlos, so doch ziemlich unpraktisch”. Bei Giroud lernt er mindestens Französisch.
An der Uni mischt er sich unter die Naturwissenschaftler und avanciert vom simplen Hörer zum bildenden Künstler. Denn Professor Carl Vogt,ein Anhänger des Darwinismus, entpuppt sich als Reformer der Pädagogik. Bei ihm muss jeder Student zeichnen. Wissenschaftlich exakt und auch “nach Herzenslust”. Beim Sezieren im Labor lernt Hodler das innerste Geheimnis von Muskeln kennen: Das könne man eben nur am toten Menschen entschlüsseln - “so wie man eine Maschine zuerst abstellen muss, um ihr inneres Getriebe zu erfassen”.
Von menschlichen Muskeln kommt er sein Leben lang nie mehr los: Krieger, Holzfäller, Mäher - das sind seine Figuren, die jede Schweizerin und jeder Schweizer in die Hand bekommen will. Hodlers “Mäher” zieren ein halbes Jahrhundert lang die blauen Hunderter-Banknoten, Hodlers “Holzfäller die grünen Fünfzigernoten.
Als Gemälde gibt es den Holzfäller in mindestens fünfzehn Versionen. Ein besonders grossformatiges Exemplar gelangte ins Büro zweier so unterschiedlicher Bundesräte wie Christoph Blocher und Moritz Leuenberger. “Ich engagierte mich früh gegen das Waldsterben und lag damit im Trend”, sprach Moritz Leuenberger einmal vor Föstern. “Kaum war ich im Bundesrat, liess ich den Holzfäller an die Wand hängen - und schockierte damit nur wenige meiner Besucher.” Und Christoph Blocher? “Mir gefällts, mehr muss ich dazu nicht sagen.”
Zum hundertsten Todestag von Ferdinand Hodler lässt sich Blocher nicht lumpen und sponsert mit dem Zementinustriellen Thomas Schmidheiny und zwei weiteren etablierten Herren die März-Ausgabe der Kulturzeitschrift “Du”. In seinem eigenen kurzen Text schreibt der abgewählte Bundesrat über Hodlers Landschaftsmalerei und fragt: “Sind das überhaupt noch Berge?”
Blochers Antwort: “Zumindest nicht nur Berge. Vielmehr Persönlichkeiten: bestimmt, kraftvoll, standfest, trutzig und unbeeindruckt von allem Oberflächlichen und Flatterhaften. So, wie ich mir einen guten Vater, einen tüchtigen Unternehmer, einen gestaltenden Politiker vorstelle: Plötzlich werden Berge zu Symbolen.”
Bei fast jeder Gelegenheit wird Hodler fast gleich verherrlicht. Als Patriot. Als alpines Urgestein gegen alles, was das Einheimische bedroht.
Allerdings muss Hodler just das Gegenteil erleben: im Inland wird sein Werk zunächst für “hässlich” erklärt, und später wird es verhöhnt aus politischen Gründen. Zu viel Realismus eckt an im Schweizerland. Denn Hodler malt den Schuster als Schuster, die tote Geliebte als tote Geliebt, die arme Seele als arme Seele,das Schlachtfeld Marignano als Schlachtfeld. Bei Ferdinand Hodler gibt es keine Idealisierung, keine Verklärung.
Die arme Seele, 1880 |
Der Zürcher Kunsthistoriker Konrad Farner, ein bekennender Kommunist, hat 1966 eine schlichte, zehnseitige Biografie verfasst. Darin erhöht er Hodler zur “Erscheinung der Übergangszeit vom bürgerlichen Hochkapitalismus zum bürgerlichen Spätkapitalismus”. Ganz besonders gefiel ihm das Bild “Der Schreiner” aus der Frühzeit von Hodlers Schaffen: “Das beste Handwerkerbild der Schweizer Kunst - symbolhaft und zugleich sehr klassenbewusst”.
Beleg dafür ist die weisse Inschrift links über dem Kopf des Schreiners auf der Holzwand: “Section menuisier, 8 juin 1875”: das Datum seines Beitritts zur Gewerkschaft. Als wäre Farner Blocher, ernennt er Hodler zum “Mann des Volkes”.
Und wer ist eigentlich Hodlers “eigener” Biograph Carl Albert Loosli? Einer wie Hodler, ein Mann vom Rand. “Ein Schriftsteller, der das Schicksal eines administrativ Verwahrten als Zögling im Erziehungsheim auf Schloss Trachselwald/Emmental am eigenen Leib erfahren und ein Leben lang gegen die administrative Verwahrung angekämpft hat”, schreibt der Basler Krimi-Autor Hansjörg Schneider. “Etwas vom Besten, was die Schweizer Literatur zu bieten hat”.
Zum ersten Mal getroffen haben sich die beiden vermutlich im Jahr 1897 im legendären Berner Restaurant “Kornhauskeller, das bis heute prächtig erhalten ist mit seinen Wandmalereien (in der Galerie rechts mit einem Abbild vom Musikant Ferdinand Hodler mit Trommel und Einhandflöte).
Loosli, damals 20 Jahre jung, Journalist, trifft Hodler, 44, aus politischem Anlass. Thema ist der tobende Streit um Hodlers Wandbild “Rückzug aus Marignano” im Landesmuseum Zürich. Noch vor dem Einschlafen bringt Loosli das Gespräch “aus frischem Gedächtnis auf Papier”. In den nächsten 21 Jahren werden sich beiden noch oft treffen. Im Jahr nach Hodlers Tod bringt Loosli dann seine vier dicken Bände heraus. Hodler habe “alles, was ich ihm in den Mund lege, zu seinen Lebzeiten selbst noch nachgeprüft und ergänzend manches berichtigt”. Demnach ist Looslis Biografie“autorisiert” (wenn auch noch nicht durch den Nationalfonds “geprüft”).
Dank Loosi wissen wir, dass Hodler dank Bützberger via Giraud und dank Professor Vogt zur Erlaubnis kommt, sich ins erste öffentliche Kunstmuseum der Schweiz zu setzen, ins Musée Rath in Genf, mit seiner Staffelei direkt vor die Werke der beiden Genfer Meister Alexandre Calame und François Diday. Strich für Strich malt er sie ab. Dabei schaut ihm manchmal Barthélemy Menn über die Schulter, der Lehrer der Genfer Kunstschule. “Menn war jederzeit recht freundlich und erteilte mir oft recht wertvolle Ratschläge.” Er nimmt ihn in seine Schule auf, gratis, und lässt ihn zeichnen, zeichnen, zeichnen. Hodler wird sein Leben lang zeichnen, jederzeit und allerorts hat er ein blaues Skizzenheft dabei. Solche “Hodler carnets” kann man heute bequem durchblättern: das Musée d’arts et d’histoire der Stadt Genf hat 295 PDFs online gestellt.”Etwas vom Grossartigsten”, urteil Philippe Büttner, Konservator und Kurator im Kunsthaus Zürich. “Das ist der persönliche, intime Hodler, sehr berührend.”
Fünf Jahre darf Hodler in Menns nobler Schule bleiben, vereint mit den Herrensöhnen, “les fils à papa”, die ihn “Streber” schimpfen, während er sich selber als “Prolet” bezeichnet, der kein Geld habe, sich fremde Modelle zu leisten. Also startet er mit einem Selbstbildnis. “Der Studierende” wird ausgestellt, sogar beachtet, doch im “Journal de Genève” am 12. April 1876 für “hässlich” erklärt. Das Publikum bleibe stehen und breche in Gelächter aus. Sein Urheber solle “zur Schule gehen, um das Schöne erst noch zu lernen” - wenn es sich denn nicht den 'Luxus' leisten wolle zu verhungern", schreibt der bürgerliche Journalist in der bürgerlichen Zeitung.
Hodler, der in seiner Jugend im Mattequartier von Bern und beim Schuster Neukomm erfahren hat, hat, was Not ist, malt weiter. Beim Bild “Der Schreiner” kann sein Vater nicht Modell gestanden haben, aber die Figuren beider Bilder ähneln einander. Wie der Vater so der Sohn, beide posierend, beide frisch frisiert, beide mit wachen Augen. Stoisch hält “Der Studierende” sein Winkelmass in der linken Hand, stolz klammert sich “Der Schreiner” an seine Säge. Und beide stecken sie voller Eifer. Der Schreiner muss sich vielleicht noch umziehen, bevor er sich an die Hobelbank setzt, der Studierende erhebt die linke Hand zum Schwur. “Man sieht, wie er sozusagen den Eid auf die grosse, ernste Kunst ablegt”. sagt Philippe Büttner, Konservator der Sammlung im Zürcher Kunsthaus. In diesem Museum hat “Der Studierende”wie “der Schreiner” seinen Platz gefunden: im famosen Hodler-Saal.
Nach dem “Journal de Genève urteilt auch die zweite Genfer Zeitung “Genevois” am 13. März 1877 gnadenlos: “Le laid et le sale”, das Hässliche und das Schmutzige. Ferdinand Hodler, der tags zuvor seinen 24. Geburtstag gefeiert hat, zieht daraus eine Lektion fürs Leben: “Ich pfeife auf alles, was über mich gesagt und geschrieben wird - das Werk bleibt.”
Gleich beim ersten Wettbewerb, an dem er teilnimmt, gewinnt er 1874 den renommierten Calame-Preis für das Landschaftsbild “Waldinneres bei Frontemex”. Hodler dankt seinem Ausbildner: “Menn lehrte mich, die Natur in ihrer Gesetzmässigkeit zu erkennen und zeigte mir, dass alles, war in der Natur geschieht, die wiederholte Anwendung ewig gleichbleibender Gesetze ist.”
Hodler will zulegen. Und packt im Herbst 1876 unvermittelt die Koffer. Ab nach Madrid, das Calame-Preisgeld von 300 Franken im Sack.
Unmittelbare Ursache zur überstürzten Abreise ist Mademoiselle Caroline Lechaud, beichtet Hodler im Alter von 61 Jahren dem Berner Journalisten und Kunsthistoriker Hans Mühlestein, der neben Loosli zu seinem zweiten Biografen wird. “In merkwürdig eindringlicher Weise, als ob alles noch gegenwärtig wäre, warnte mich Hodler, ich solle auf nichts hören, was von anderer Seite über dieses Fräulein Lechaud erzählt werde. Das sei nämlich eine so ‘peinliche’, ja ‘gefährliche’ Geschichte gewesen.” Auf Hodler Aufforderung greift Mühlestein zum Stift und Block und protokolliert im Februar 1914 eine Geschichte, die 38 Jahre alt ist.
Caroline Lechaud ist Hodlers erstes weibliche Modell. Eine Tochter” aus guter Bürgersfamilie”, die für das Modell-Stehen kein Geld verlangen muss, das er sowieso nicht hätte. “Ich war damals noch so im Dreck”. Aus Angst vor ihren edlen Eltern sehen sich die beiden nur heimlich.
In Hodlers Worten, zitiert nach Mühlestein, war es “immer eine schöne Quälerei für mich, wenn sie bei mir gesessen hat. Ich konnte es schon so oft nicht mehr aushalten. Aber sie wollte um nichts in der Welt etwas wissen von Anrühren. So musste es zur tragisch-dramatischen letzten Sitzung kommen, steht in Mühlsteins Buch. “Da ist’s mir eben wirklich zu heiss geworden. Ich warf Pinsel und Palette weg und riss sie in meine Arme”.
Das so genannte Fräulein reagiert voller Kraft: “Gewehrt hat sie sich, geschlagen, gebissen hat sie mich. Und auf und davon ist sie, ich habe sie nie wieder gesehen”. Darum sei das Bild auch nie fertig geworden, sagt Hodler laut Mühlestein.
Dieser letzte Satz ist eher Koketterie als Legende. Denn das “Bildnis der Moidemoiselle Lechaud” gehört heute zur Sammlung im Kunsthaus Zürich, in jeder Hinsicht vollendet. So keusch die sonntäglich gekleidete junge Dame wirkt, so reif war der 23-jährige Tölpel als Maler. Zum Frauenheld wird Ferdinand Hodler erst später.
Wie intim das Portrait-Malen ist, erklärt Hodler mit anatomischer Genauigkeit: Der Hohn spanne die Gesichtsmuskulatur, der Schreck lähme die Gesichtsmuskulatur. die Überraschung schalte die Gesichtsmuskulatur aus. Das seien “formelle Erscheinungen, die erlauben, mit fast untrüglicher Sicherheit auf den Seelenzustand dessen, der sich darbietet, zu schliessen.”
Mademoiselle Lechaud, 1874 |
Was konkret drückt die Gesichtsmuskulatur von Mademoiselle Lechaud aus? Ulf Küster, Kurator im Beyeler-Museum in Riehen bei Basel, der selber auch eine kleine Hodler-Biografie verfasst hat, deutet ihre Haltung wie folgt:
„Caroline scheint sich in einem kurzen, brüsken Moment zur Seite gedreht zu haben, um den Betrachter direkt und ernst in die Augen zu blicken. Die Dargestellte wirkt abweisend und arrogant.“
Arroganz ist selbstverständlich eine subjektive Wahrnehmung. Vor allem weil Ulf Küster weiss, unter welchen Umständen dieses Bild entstanden ist.
In Madrid bleibt Hodler drei Jahre, kommt künstlerisch aber nicht weiter. Zurück in Genf stellt er in einer leerstehenden Boutique in einem Aussenquartier aus für 20 Centime Eintritt. Die Resonanz ist harsch. In jedem Gemälde stecke “ein Schuss Gemeinheit”, findet die “Tribune de Genève” am 23. April 1880. “Le Genevois ortet am 21. April 1880 einen “schlecht geleiteten Schüler, der seine Orthographiefehler für Originalität hält”.
Gegenüber seinem Biografen Hans Mühlestein bilanziert Hodler seinen vierjährigen Aufenthalt in Spanien in einem einzigen Satz er auf Berndeutsch: “Es wär villicht gschiider gsi, i wär uf Paris gange.”
Paris ist die damalige Kunstmetropole, hier brodelt es rund um das neue Schaffen von Gaugin, Degas, Manet, Cézanne. Und rund um Vincent Van Gogh, geboren genau zwei Wochen nach Hodler.
Drei Tage nach dem 30. Geburtstag fängt der Schweizer in der Schweizer Provinz nochmals von vorn an. Das “Oberaargauer Tagblatt” berichtet am 11. März 1883: “Herr Hodler hat im hintern Saal des Gasthofs zum Kreuz drei Gemälde ausgestellt zur Besichtigung für jedermann gegen die kleine Gebühr von 20 Cts.”
Frustriert zieht er von dannen, wie damals beim Lehrmeister Sommer, wieder zu Fuss, wieder über Nyon und Morges dem Genfersee entlang, auf dem Buckel so viele Bilder wie möglich. Er hausiert, bringt sich als Porträtmaler unter, verlangt 50 Franken pro Stück plus Kost und Logis. “Verdienstreise”, nennt er das.
In Genf findet er diesmal keinen Unterschlupf im Bildungsbürgertum wie zuvor beim Musiker Giraud, im Gegenteil, er rutscht ab ins “proletarischen Milieu”, wie er noch oft erzählen wird. “In jener Zeit lebte ich fast ausschliesslich in der Gesellschaft armer Teufel, gescheiterter Existenzen aus den tiefsten Schichten”. Einen Schnapstrinker befreit er aus dem Strassengraben, auch alle anderen Männer und Frauen, die ihm Modell stehen, kennt er persönlich. “Mich zogen die Unglücklichen an und ich sie”. Mindestens drei Jahre lang besitzt er kein Bett, legt statt dessen die Tür eines Schranks auf dem holprigen, kalten Boden, als Decken dienen ihm unbemalte Leinwände. Oder ist das jetzt eine Legende?
1880 mietet er sich an der Grand Rue, 35 neben der Kathedrale St. Pierre ein Atelier. Wie kann er sich das leisten? “Meine Schulden habe ich immer mit Bildern bezahlt”, antwortete Hodler auf solche Fragen. Demnach wäre der Sammler Bützberger auch sein grösster Gläubiger.
Im neuen Atelier entstehen Gemälde, die schon mit ihren Titeln Emotionen auslösen. “Die enttäuschten Seelen”: fünf Männer, schwarz gekleidet, mit langen Bärten und Furchen auf der Stirn, sitzen auf der Bank in einer Wiese, ein Greis mit nackter Schulter. Oder “Die Lebensmüden”: fünf Männer in weissen Gewändern mit Bärten und Furchen im Gesicht, ein Greis mit nackter Schulter, sitzen auf der Bank in einem Friedhof. Parallelismus in Reinkultur auf tiefstem sozialen Niveau. Zwei Meisterwerke, die hierzulande niemand sehen will. “Vagabundieren” wird zum Hodler'schen Flügelwort. Und “Die Nacht” zu seinem Meisterstreich, mit dem er, jetzt 37, für den ersten Skandal sorgt.
Das Bild zeigt eine Gruppe von neun Schlafenden in einer felsigen Landschaft. Nicht alle sind von Kopf bis Fuss bekleidet. Der Mann in der Mitte, ohne Zweifel Ferdinand Hodler selber, erwacht vom Schreck. Über ihm eine schwarz verhüllte Gestalt, die den Tod darstellt. Denn auf dem hinteren Rahmen des Bildes steht in Hodlers Handschrift: “Plus d'un qui s'est couché tranquillement le soir ne s'éveillera pas le lendemain matin”.
Zwei Frauen sind eindeutig identifizierbar. Die Frau links von Hodler ist seine Geliebte Augustine Dupin. Seit zwei Jahren kennt er sie, seit zwei Jahren malt er sie. Am 1. Oktober 1887 hat sie ihr gemeinsames Kind Hector zur Welt gebracht.
Da verliebt sich Vater Hodler in Bertha Stucki, die er - mitten in der fiebrigen Arbeit an “Die Nacht” - am 18. Juli 1889 heiratet. Prompt rutscht auch Bertha Stucki mit ins Bild “Die Nacht”, sie liegt rechts von ihm. VIDEO
“Die Nacht” wird im Musée Rath in Genf aufgehängt - und am nächsten Morgen polizeilich entfernt. “Gegen die guten Sitten verstossend”, “volksverderberische Nacktheiten”, urteilt Stadtpräsident Théodore Turretini, der zuvor als Jurypräsident dieses Bild noch begrüsst hat. Proteste bis in die Deutschschweiz, Polemiken in Zeitungen, zornige Briefe an den Künstler, die Loosli bündelt: Der eine sah “die Versinnbildlichung der erlaubten und der unerlaubten Liebe”. Der andere “die Verherrlichung des Nichts, des Nirwana”, ein Dritter “die sinnbildliche Darstellung des bösen Gewissens”.
Hodler selber empfiehlt nüchtern: “Wäre ich ein unbefangener Beschauer, würde ich mich zunächst einmal fragen: ‘Was sehe ich?’
Seine Antwort ist eine Referenz an den “Parallelismus”. Denn Hodler sieht: “Neun Figuren, wovon sechs paarweise und drei zu einer Gruppe vereinigt liegen, und in der Mitte eine Figur, die von einer andern bedrückt wird. Das ist es in meiner ‘Nacht’, das wollte ich malen und das habe ich gemalt, so gut ich es verstand und konnte. Punktum”.
Doch als Künstler lamentiert er nicht, er agiert und zügelt sein Bild ins Bâtiment électoral, einen kleinen Saal neben dem dem grossen Musée Rath. Einen Franken verlangt er pro Eintritt. 1’300 Leute pilgern in das kleine Bâtiment , und dank diesen 1'300 Franken erreicht Ferdinand Hodler sein Ziel: Paris. Seinem Freund Friedrich Bützberger schreibt er: “Die Schweizer wollen mich nicht verstehen, bis sie sehen, dass ich anderswo verstanden bin.”
Tatsächlich: Was im calvinistischen Genf refüsiert wird, kommt in Paris an. An der Exposition Nationale des Beaux-arts, der wichtigste Ausstellung von Paris, wird “Die Nacht” im Ehrenraum präsentiert, einstimmig von der Jury auserkoren. Als Ausländer wird Ferdinand Hodler sogar in die Société National des Artistes Français aufgenommen. Dies sei ihm “die liebste Anerkennung seines ganzen Lebens” gewesen.
Hodlers Adresse an der Grand Rue 35 wird zum Treffpunkt der Bohèmes. Louis Duchosal, ein Genfer Dichter und Poet, schreibt in der “Tribune de Genêve am 9. März 1891: Dieses Atelier gleicht dem Talent Hodlers: der Zugang ist schwierig. Die Treppe ist zum Hals- und Beinbrechen, aber ist man einmal oben, so geniesst man eine unvergleichliche Aussicht auf die tieferliegende Stadt bis zum grossen See. Der Glockenturm von St. Pierre ist uns fast benachbart, und in der guten Jahreszeit setzen sich die Schwalben neben uns, ohne Furcht.”
Auch Biograph Mühlestein beginnt mit der Beschreibung unten: “Ein engbrüstiges Haus von der Breite eines einfenstrigen Zimmers, aus dem tiefen, dämmerigen Schacht der Strasse empor in eine lichte Höhe”. Zum Biographen Loosli sagt Hodler: “Ich war der höchste Bewohner Genfs”. Zwanzig Jahre wird er er es bleiben.
Zum Eclat kommt es in Zürich. Dort wird, auf die Eröffnung des Landesmuseums 1898 hin, ein Wettbewerb ausgeschrieben für die monumentale Fresken im grossen Waffensaal. Hodler, inzwischen 45, mietet sich eine Scheune ausserhalb von Bern, die gross genug ist, damit er eine Vorlage aus Karton-Stücken im Massstab 1:1 anfertigen kann. Eine Riesenbüez. Der Sommer geht vorüber, die Nächte werden kühler, doch “so lange ich arbeite, spüre ich die Kälte nicht”, erzählt der Legendenerzähler. Eines Morgengrauens gefrieren die Farben. Es reicht trotzdem, Hodlers Entwurf zum “Rückzug aus Marignano” wird von der Jury im Januar 1897 einstimmig gewählt.
Dann gehts los. Der Direktor des Landesmuseums, Heinrich Angst, protestiert, Zünfter rebellieren, flankiert von Hochschullehrern, Zürcher Gemeinderäte machen mobil, Inserate in den Zeitungen, der Bundesrat interveniert, Hodler muss einen zweiten Entwurf präsentieren, öffentlich vorlegen, acht tausend Besucher strömen innert sieben Tagen ins kleine Zürcher Helmhaus, der Bundesrat erscheint zu viert, Hodler ist anwesend, die restlichen drei Bundesräte folgen später, schliesslich ist das neue Landesmuseum Bundessache. Als endlich am Dezember 1899, fast zwei Jahre nach dem Jury-Entscheid, Ferdinand Hodler starten will, verbarrikadiert Museumsdirektor Heinrich Angst die Tür und schreit dem Künstler entgegen: “Solange es nach mir geht, werdet Ihr nie einen Fuss in dieses Haus setzen!”
Was ist der Stein des Anstosses? Hodlers Korrektheit. Er malt, wie das Blut spritzt und wird dafür “Bluthodler” geschimpft. Er malt Krieger als Krieger mit Gesichtern von Bauern, Handwerkern, Fabrikarbeitern, Landsknechten, also von Menschen, die tatsächlich in den Krieg gezogen sind. Nicht für die Freiheit, sondern für Geld. Diese Schweizer Soldaten waren Söldner, zehntausend im Dienste Frankreichs, fünf tausend im Dienst des Herzogtums Mailands.
Rückzug von Marignano: Karton II, 1897/1898 |
Hodler ist eben kein malender Patriot. Er verbreitet zwar Legenden über sich, aber keine Mythen über die Schweiz. Das zeigt auch die Kontroverse rund um das Bild vom Wilhelm Tell: “Ich kann mir beim besten Willen den Tell, den Sennen und Gemsjäger, nicht als philosophierenden Kulissenhelden vorstellen, wie ihn Schiller für seine Zwecke schildert”. Hodlers Tell ist “ein struppiger Bergler mit dem Duft von Kuhmist”. Hodlers Tell trägt die zornigen Gesichtszüge von Ferdinand Hodler. Bis heute tritt bei jeder Freilichtaufführung ein Tell auf, der wie Hodler aussieht.
Politisch aktiv wird er selber nie, Zeitung liest er kaum, Doch 1917, als in in Russland die Revolution ausbricht, sagt er zu Stéphanie Guerzoni: “Das ist das gewaltige Ereignis der Epoche. Der Krieg hat, im Vergleich dazu, wenig Bedeutung. Kriege hat es immer gegeben, und man vergisst sie rasch. Diese Revolution ist der Beginn einer neuen Ära auf ganz neuer Grundlage von ungeheurer Tragweite.”
Hodler ist jetzt ein Star. An einer Internationalen Ausstellung 1914 in Berlin trifft er Kaiser Wilhelm II. Nach der Eröffnungsfeier sitzen sie sich beim anschliessenden Nachtessen direkt gegenüber. Hodler hat die Rosette der französischen Ehrenlegion im Knopfloch. Des Kaisers Augen blitzen auf. “”Sein Gesicht wurde hart, seine Haltung eisig. Er grüsste und entfernte sich”, erzählt Hodler seiner Schülerin Stéphanie Guerzoni.
Wahr ist, dass sich Ferdinand Hodler exponiert. Nach dem Beschuss der berühmten Kathedrale von Reims im September 1914 legt legt ihm der Waadtländer Theaterleiter René Moraz eine Resolution vor, die das Wort “Barbaren” enthält. Hodler unterschreibt- und wird deswegen in Deutschland aus allen Kunstvereinigungen ausgeschlossen. “Ich halte den Ausdruck aufrecht”, sagt Hodler zu Loosi. Freilich habe er nie daran gedacht, mit “Barbaren” sei das ganze deutsche Volk gemeint. Das galt “lediglich den Leuten, die für die Antastung des Domes verantwortlich waren, die sie angeordnet und durchgeführt haben”.
Inspiriert wird der Künstler bei solchen Fragen sicher von seinem zweiten Biografen. Der Schriftsteller Hans Mühlestein entwickelt sich zum sozialistischer Pazifist, der 1919 aus Preussen ausgewiesen wird.
Konrad Farner, der bekennende Kommunist, hält fest: “Ferdinand Hodler war ein Demokrat durch und durch und immer auf der Seite der Schwachen.
Das ist, mindestens in einer Hinsicht, eine Legende: wenn es um Frauen geht. 1910 wird Ferdinand Hodler Zentralpräsident der GSMBA (Gesellschaft Schweizerischer Maler, Bildhauer und Architekten). Loosli agiert als sein Sekretär. Zur Debatte steht, ob in diesem Verband auch Frauen das Stimmrecht erhalten sollen. Hodler schliesst die Versammlung mit den Worten ”Mer wei kener Wiiber.”
Mühlestein sagt es so: “Die Frau war für Hodler selten mehr als Modell, Lustobjekt oder Mittel zu einem gesellschaftlichen Zweck”. Auf dem Höhepunkt des Erfolgs habe Hodler ihm gegenüber hundert Mal “in dramatischen Einzelheiten” geprahlt, wie er jedes Weib besitzen könne, das er wolle.
Aber sogar das ist eine Legende. Im Notfall, wenn er übergriffig wird, muss ihn eine Frau beissen. Selbst darin wird der Wiederholungskünstler zum Wiederholungstäter. Lange nach seinem Erlebnis mit Caroline Lechaud,wünscht er sich - als zweifacher Vater - von Charlotte Berend-Corinth “einen Sohn.”. Dann küsst er sie - und “ich biss ihm tief in die Lippe”, schreibt die deutsche Malerin Charlotte Berend-Corinth in ihrer Autobiografie. “Er sprang zurück und fixierte mich. Leise kam dann seine Frage: ‘Sie wollen, dass ich Sie nicht vergesse?’. Ich nickte.”
Und wie geht Ferdinand Hodler mit seinem Tod um?
So wie er er es sein Leben lang getan hat. Er malt ein Selbstbildnis nach dem andern. .”Man wird mir wenigstens nicht nachreden können, dass ich den Trottel nicht gekannt und ehrlich gemalt habe.” 1916 kommen 10 neue Selbstbildnisse hinzu, 1917 sechs, und 1918, bevor er stirbt, sein letztes. Nachdem er, heimgekehrt von einem Spaziergang, daheim auf dem Faueuil für immer eingeschlafen ist, besucht ihn sein Freund Cuno Amiet und tauscht die Rolle. Er tut, was F.H. mit seinen Geliebten getan hat. Cuno Amiet: “Ich malte ihn. Er lag im Sarg.”
Die tote Valentine Dodé-Darel, 24 Januar 1915 |
Hans Mühlestein, Georg Schmidt: Ferdinand Hodler. Sein Leben und sein Werk, Unionsverlag, Zürich, 1983
Ulf Küster: Ferdinand Hodler, Hatje Cantz Verlag, Ostfildern, 2012
Stéphanie Guerzoni: Ferdinand Hodler, Rascher Verlag, Zürich und Stuttgart, 1959
Beat Sterchi und Cornelia Luchsinger(Herausgeber): Biographische Erinnerungen, Verllag Scheidegger & Spiess, Zürich, 2004. Mit Beiträgen von Cuno Amiet, Konrad Farner, Stéphanie Guerzoni, Charlotte Berend-Corinth, Carl Albert Loosli, Beat Sterchi u.a.
Nationalfonds-Studie online:
www.ferdinand-hodler.ch
Fotonachweis: Alle Bilder Kunstmuseum Basel, Online-Sammlung, (ausser "Mademoiselle Lechaud", Kunstthaus Zürich.).
Grösstes Bild ganz oben:
Selbstbildnis, 1912
Öl auf Leinwand
38.4 x 29.5 cm
Kunstmuseum Basel
Photo Credit:
Martin P. Bühler