Donnerstag, 19. Mai 2016

Mit der Miss Schweiz im Brockenhaus

© Paolo Dutto
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Im Alltag trägt Lauriane Sallin keine luxuriösen Labels. Die aktuelle Miss Schweiz steht auf das Originelle. Also treffen wir uns statt in einer teuren Boutique im Brockenhaus, zentral gelegen hinter den vielen Gleisen am Hauptbahnhof Zürich. Die Ware, die hier feilgeboten wird, ist nicht in jedem Fall spottbillig, dafür echt: riesige Plakatschilder, ausgesessene Wirtshausstühle, Hüte, die mehr als alte Hüte sind. «Ein cooler Ort», sagt Sallin mit dem Charme einer Welschen, die auch mal ein englisches Wort einstreut.

Mit «cool» meint sie lebendig. So lebendig, wie die Kleider sind, in denen sie sich heute präsentiert. Angesagt ist «le style Sallin», wie er originaler nicht sein könnte: selber genäht. Vorgestern, erzählt sie, habe sie im Warenhaus diesen blumigen, fast groben Stoff entdeckt. Ein Meter Breite und knapp drei Meter Länge waren ihr genug, um daraus einen Rock zu zaubern an einem einzigen Samstag in Belfaux FR am Küchentisch im Elternhaus.

Ihr Vater Nicolas: gelernter Maurer. Ihr Bruder Arnaud: gelernter Maurer. Ihr Freund Nathy: gelernter Maurer. Sie selber hat zwei Semester Kunstgeschichte an der Universität Freiburg hinter sich. Ihr Berufsziel: Archäologin. «Steinwerk ist unsere Leidenschaft», sagt sie. Und wenn ihr andere Leute sagen, als schönste Frau der Schweiz müsse sie doch nicht im Dreck buddeln, freut sie sich umso mehr auf den Sommer. Wie letztes Jahr wird sie in der Schweizerischen Archäologischen Schule in Athen ein dreiwöchiges Praktikum absolvieren und wie letztes Jahr im Anarchistenviertel Exarchia wohnen. Wo das Leben auch im wirtschaftlichen Desaster pulsiert und die Jugend trotz miserablen Perspektiven den Mut nicht verloren hat. «Anarchismus», doziert die Miss Schweiz 2016, «bedeutet, dass es über dir keine Leute gibt, die dir sagen, was du zu tun hast.»

Zum Beispiel möchte sie lieber nicht als Model am Automobilsalon in Genf vor Boliden stehen. Total verweigert hat sie sich den Anordnungen und Pflichten einer Miss trotzdem nicht: In Dielsdorf ZH posierte sie an einem Jubiläumsfest von BMW zusammen mit ihrer Vorgängerin Laetitia Guarino, Studentin für Medizin. Zwischen den Missen: Guido Fluri, 49, Immobilienunternehmer aus Baar ZG. Vor vier Jahren hat Fluri die Marke «Miss Schweiz» gekauft, um sie neu zu positionieren: weg vom Oberflächlichen, hin zum Tiefergründigen. Makellos schön muss eine Miss weiterhin sein. Aber gleichzeitig soll sie auch glaubwürdig sein für karitative Aktivitäten. Das hat Lauriane Sallin gereizt, nun erledigt sie beides parallel.

Neben ihren Verpflichtungen für L’Oréal, BMW, Pasito, Balmain und andere Sponsoren wird sie im August mit Bundespräsident Johann Schneider-Ammann an die Olympischen Sommerspiele nach Rio fliegen und dabei ein paar Tage anhängen: für ein Projekt von Terre des Hommes. Es wird ihr vierter Einsatz für eine Hilfsorganisation. Unmittelbar nach der Wahl zur Miss Schweiz besuchte sie Marokko – im Dienst von Corelina, einer Stiftung, die sich für herzkranke Kinder einsetzt. In Rabat erkannte sie, dass nicht allen Kindern geholfen werden kann: «Bei jeder Untersuchung muss eine Entscheidung getroffen werden: Operation – ja oder nein? Leben – ja oder nein? In dem Moment, als ich das hörte, hatte ich ein komisches Gefühl. Ich empfand Ungerechtigkeit, ja ich spürte eine Mitschuld.» Denn sie hätte allen Kindern eine Operation ermöglichen wollen.

Gegründet wurde die Stiftung Corelina vom prominenten Berner Herzchirurgen Thierry Carrel, unterstützt von Guido Fluri, dem neuen Besitzer der Organisation Miss Schweiz. Am Zürcher Opernball wirbelte Fluri die Miss übers Parkett; das ist der Glamour. Doch die beiden verbindet ein Schicksal, das mit dem Miss-Schweiz-Engagement nichts zu tun hat: Fluri lebt seit zehn Jahren mit der Diagnose Hirntumor, Laurianes Schwester Gaëlle ist im Alter von 23 Jahren an einem Hirntumor gestorben – im Mai 2015 während der Castings zu den Miss-Schweiz-Wahlen. Lauriane gab nicht auf, sie wusste, dass sich Gaëlle das so gewünscht hätte.

Als gekürte Miss Schweiz lobte Lauriane Sallin das Rehabilitationszentrum für Kinder und Jugendliche in Affoltern ZH, das auf Hirnverletzungen spezialisiert ist. In der Westschweiz gibt es so etwas nicht. Als Gaëlle nach der Operation nach Hause durfte, musste sie von der Mutter Anne-Noëlle, einer gelernten Krankenschwester, gepflegt werden. Eine Belastung, vor allem psychisch, besonders auch für Lauriane. Nun kämpft sie dafür, dass auch im Kanton Freiburg ein derartiges Reha-Zentrum geschaffen wird.

Deshalb knüpfte sie Kontakt zum höchsten Gesundheitspolitiker im Land: Alain Berset. Man kennt sich schliesslich vom Dorf. Die Eltern Sallin und die Eltern Berset sind sogar in der gleichen politischen Partei. Als Bersets Sohn Alain am 14. Dezember 2011 in Bern zum Bundesrat gewählt wurde, gabs ein Dorffest in Belfaux. Als Sallins Tochter Lauriane am 7. November 2015 in Basel zur Miss Schweiz gewählt wurde, gabs das nächste Dorffest. Kürzlich trafen sich die beiden Amtierenden in der traditionellen Dorfkäserei zu einem Fotoshooting, arrangiert vom Ringier-Medienhaus Zürich.

Inzwischen haben sogar Kulturjournalisten die Miss Schweiz entdeckt. Der Zürcher Autor Linus Schöpfer traf sie und fand «die Intensität, mit der Sallin über akademische Theorien sprach, bemerkenswert». Schöpfers ganzseitiger Artikel, veröffentlicht im Zürcher «Tages-Anzeiger», verleitete das deutsche Nachrichtenmagazin «Spiegel» zum Kalauer «Miss Verstand». Die katholische und die reformierte Presse hat die praktizierende Christin Sallin zur Religion befragt. Und der ehemalige Bundesrat Moritz Leuenberger hat sie als Gesprächsgast zu seiner Matinee im Zürcher Bernhard Theater eingeladen. Dass er mit einer Miss Schweiz über den klassischen griechischen Dichter Sophokles diskutieren konnte, genoss Leuenberger: «Lauriane Sallin denkt sehr politisch.»

Tatsächlich mischte sie sich aktiv in einen Abstimmungskampf ein: Rund um die Durchsetzungsinitiative bezog sie im Februar öffentlich Stellung gegen die SVP-Vorlage. So etwas wäre für eine frühere Miss Schweiz undenkbar gewesen. Und bald wirbt sie mit ihrem Äusseren für einen schonenden Umgang mit den Ressourcen: zu den Themen Wohnen und Ernährung tritt sie auf der neuen Plattform «Energie Schweiz» auf, die vom Bundesamt für Energie geleitet wird.

Ihr Einsatz als Miss Schweiz dauert noch ein halbes Jahr. Sie wird 120 000 Franken verdienen und dabei weiterhin im ländlichen Belfaux im Elternhaus wohnen. Der Eingang ist kaum zu finden, es geht durch eine Mischung aus Garage und Stall. Katzenfamilien, Kaninchen und Wachteln in Käfigen, frei laufende Hühner im Nachbarhof. Mutter Anne-Noëlle sagt: «Unser Zusammenleben hat sich durch Laurianes Titel kein bisschen verändert.» Manchmal kocht ihr die Tochter den Zmittag. Oder sie metzget ein Huhn höchstselbst. «Ich töte das Tier nicht», betont Lauriane Sallin, das Töten erledigt ihr Vater oder ihr Grossvater. Aber sie nimmt die Hühner aus und seziert die Innereien mit wissenschaftlicher Neugier. «Auf diese Weise gewinne ich Respekt vor den Tieren.»

So traurig sie war, als ihre Schwester Gaëlle starb, so rational erzählt sie heute vom Abschied: «Ich habe das auch als positiv erlebt», wie sie die letzten Stunden mit ihrer Schwester verbracht hat. Sie hat gelernt, jeden Augenblick zu schätzen: «Eine Minute ist immer eine Minute. Was du während dieser Minute tust, entscheidest du allein. Danach ist es vorbei, danach kannst du diese Minute niemandem mehr schenken.» Genau so möchte sie ihr zukünftiges Leben gestalten.

Erschienen in "Schweizer Familie"