Freitag, 23. Juni 2017

Schang Hutter in Trubschachen

Die Klingel funktionierte nicht, also wartete Schang Hutter, im Rollstuhl sitzend, bei offenem Tor in seiner Werkstatt in Attiswil BE. Zu Besuch kam Oscar Kambly, der Biscuit-Fabrikant aus Trubschachen in dritter Generation. Oscar Kambly verfolgte Hutters Werk schon lange, Schang Hutter kannte Kamblys Biscuits noch länger, persönlich begegnet waren sich die beiden bisher nie. Das Treffen arrangiert hatte ein gemeinsamer Freund, ein Sammler.

Drei Jahre sind seither vergangen. Anlass für den Besuch von Kambly, 65, beim Künstler Hutter, 82, war die Kunstausstellung Trubschachen, die diesen Sommer zum 20. Mal stattfindet. Kambly als Präsident des Organisationskomitees wollte Hutter, einen der grössten Schweizer Bildhauer, höchstpersönlich einladen, seine Werke zu zeigen. Es war der Beginn einer fruchtbaren Zusammenar-beit. An das erste Treffen erinnert sich Fabrikant Kambly, als ob es gestern gewesen wäre.

«Schang Hutter empfing mich am Tor», erzählt er. Der Künstler kurvte voraus, Kambly lief hinterher. Hinein in Hutters Werkstatt, geradeaus zu farbigen Holzfiguren mit schmalen Armen und spitzen Nasen, die so typisch sind für Hutters Werk: «Meine acht, neun letzten Holzfiguren», sagte Hutter, alle anderen habe er verkauft. Auf der Werkbank standen Ajax Glasreiniger, Holzleim Express, Terpentinöl. Handschuhe lagen herum, Feilen, Sägen, Schwämme, Schnittmesser. Die Flasche Mineralwasser war halb gefüllt, der Plastikbecher leer, die Lithopresse museumswürdig. Auf der linken Bank eine kleine liegende Holzfigur, bereit zum letzten Schliff. Alles machte den Anschein, als ob der Bildhauer noch aktiv gewesen wäre. «Arbeiten», sagte Hutter sein Leben lang, «heisst verarbeiten.»
Kambly musste nicht direkt fragen, Hutter sagte es von allein: Zurzeit sei er zu schwach, um zu werken. Aber bald fange er wieder an. «Zuerst mit Zeichnungen, dann mit Lithografien», erklärte er auf dem Weg zum Lift. Den Knopf wollte er selber drücken, er liess sich noch nie gern helfen. Ein Schang Hutter rappelt sich selber auf. Sieben Hirnschläge hat er erlitten. Deshalb spricht er etwas schleppend. Doch es gelingt ihm weiterhin, sich selber zu waschen und die Kleider selber anzuziehen.

Auch die Lifttür stiess er selber auf. Er wollte Oscar Kambly den ersten Stock über der Werkstatt zeigen. Dort oben befindet sich bis heute das Lager. Regale voller Gipsfiguren, reihenweise Bronze-Statuen auf dem Boden, lauter Köpfe mit grossen Ohren. Unzählige Zeichnungen, Lithografien und Gemälde, teilweise gerahmt, sorgsam aufbewahrt wie in einem Hängeregister. «Alles uralt», sagte der Künstler zum Biscuit-Hersteller. Das meiste davon hat er in Genua geschaffen, in der italienischen Hafenstadt, wo es ihm so gefallen hatte wegen dem Klima und dem Meeranschluss.
«Der Verletzlichkeit Raum geben», lautet das ewige Motto von Hutters Kunstproduktion. Kambly ahnte, dass diese Worte bei Hutters Gesundheitszustand eine neue Bedeutung erhalten haben könnten. Aber nein: «Meine Themen kommen alle von München», sagte Schang Hutter. Mit 20, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, hatte er an der dortigen Kunstakademie das Studium der Bildhauerei gestartet. Die ganze Stadt zertrümmert, die Überlebenden versehrt, seelisch wie physisch. In der Umkleidekabine des Hallenschwimmbads war sich Hutter vorgekommen, als wäre er der letzte Zweibeinige. Diese Verletzlichkeit, die er in München zu Gesicht bekam, beschäftigt ihn bis heute.

Kambly folgte Hutter, vorbei an einem verstaubten Hometrainer. Hier habe er früher pedalt, bald fange er wieder damit an, sagte der Künstler. Dann zeigte er sein Räumlein, in dem er jeweils ruht. Ein Bett, der Flachbildschirm misst 62 Zoll, ein
Mikrowellenofen, die Espresso-Maschine. Hutters Partnerin Ruth Guggisberg stiess hinzu und servierte Kaffee.

Erst jetzt kam Kambly auf den Punkt: zur Kunstausstellung Trubschachen.
Heute, drei Jahre später, fasst er seine Worte zusammen: «Ich erzählte Schang, was uns in Trubschachen diese Ausstellung bedeutet.» 320 Freiwillige helfen mit, alle leisten ihren Beitrag, von der Volg-Verkäuferin bis zur Feuerwehr. Jeder nach seinen Möglichkeiten, alle ehrenamtlich, inklusive Oscar Kambly: «Wir wollen, dass die grosse Schweizer Kunst ins Dorf kommt, mitten ins Leben», sagt er. Das Publikum soll ohne Barriere staunend empfinden, ja verwandelt und «im Herz berührt» werden. Alle vier Jahre während den ersten drei Wochen in den Sommerferien, wenn die beiden Schulhäuser von Trubschachen sonst geschlossen wären, strömen Scharen aus allen Landesteilen hierher – das letzte Mal waren es sagenhafte 36 000. Die Ausstellung ist selbsttragend, die Firma Kambly will kein Sponsor sein, nur Helfer. 

Schang Hutter musste nicht überredet werden, auf der Stelle sagte er zu, seine Werke zu zeigen. «Die Idee hinter dieser Trubschacher Aktion war mir spontan sympathisch», sagt er heute.

So kam es, dass Schang Hutter diesen Sommer den Aussenraum in Trubschachen bespielt. Neben der protestantischen Kirche ragt eine gewundene, zwanzig Meter hohe Stahlkonstruktion in den Himmel. Den Pausenplatz ziert eine rostige Eisenplastik. Holzmenschen darben vor einem Emmentaler Bauernhof, aufeinander gestapelt und zusammen gekettet. Entstanden ist dieses Sujet in Warschau, wohin Hutter 1970 zu einem halbjährigen Studienaufenthalt eingeladen wurde und sich entfalten durfte. Das kommunistische Regime war nicht erfreut von dem, was der Schweizer Sozialdemokrat geliefert hatte.

1998 schockte Schang Hutter ganz Bundesbern, als er seine tonnenschwere Plastik präzis vors Bundeshaus stellte, so dass alle Parlamentarier einen Bogen drumherum machen mussten. «Shoa» hiess der Kubus. Im engen Schlitz oben auf dem Deckel waren Skelett-Figuren eingeklemmt – als Symbol für die Judenvernichtung. Es hagelte Proteste. Über Nacht entführte eine politische Partei vom rechten Rand den «Stein» des Anstosses, der in Wirklichkeit aus Stahl bestand.
Diesen Sommer in Trubschachen steht eine neue Version von «Shoa» im Eingang das Schulhauses – diesmal in weiss und rot, beschriftet in Kleinbuchstaben: «meine darstellungen sollten mithelfen, das ungeheuerliche nicht zu vergessen, damit sich solche verbrechen von menschen an menschen nicht wiederholen.» Nie will sich Schang Hutter vorwerfen lassen müssen, zu wenig getan zu haben für den Frieden auf der Welt. Er ist stolz, dass er das alte Werk nochmals zeigen darf.

«KZ-Opfer» heisst seine wohl berührendste Arbeit in Trubschachen. Eine nackte, abgemagerte Figur, die auf einem Bahngeleise kriechend um Hilfe fleht. Damit die Bedrohung ganz real wird, wollte Hutter seine Skulptur auf ein echtes, stillgelegtes Geleise vor Ort verpflanzen. Das haben «die Bähnler», so der Künstler, verhindert. Und Oscar Kambly? «Bis zu den obersten Stellen habe ich mich für Schang Hutter engagiert.» Vergebens.

Als Kambly nach seinem ersten Besuch in der Werkstatt vor drei Jahren in sein Auto stieg, wechselte auch Hutter das Gefährt: Vom kleinen auf den grossen Rollstuhl, seinen «Röndlli». Bis zu 25 Kilometer pro Stunde wären möglich, doch so viel Gas gebe er höchstens, wenn die Strasse ganz flach und überblickbar sei, erklärte Hutter und winkte. Auf gings. Langsam. Zum «Bären» von Attiswil.


Dieser Text erscheint in der "Schweizer Familie" vom 29. Juni

Die Kunstaustellung Trubschachen dauert vom 1. Juli bis 23. Juli 2017