Die
Klingel funktionierte nicht, also wartete Schang Hutter, im Rollstuhl
sitzend, bei offenem Tor in seiner Werkstatt in Attiswil BE. Zu
Besuch kam Oscar Kambly, der Biscuit-Fabrikant aus Trubschachen in
dritter Generation. Oscar Kambly verfolgte Hutters Werk schon lange,
Schang Hutter kannte Kamblys Biscuits noch länger, persönlich
begegnet waren sich die beiden bisher nie. Das Treffen arrangiert
hatte ein gemeinsamer Freund, ein Sammler.
Drei
Jahre sind seither vergangen. Anlass für den Besuch von Kambly, 65,
beim Künstler Hutter, 82, war die Kunstausstellung Trubschachen, die
diesen Sommer zum 20. Mal stattfindet. Kambly als Präsident des
Organisationskomitees wollte Hutter, einen der grössten Schweizer
Bildhauer, höchstpersönlich einladen, seine Werke zu zeigen. Es war
der Beginn einer fruchtbaren Zusammenar-beit. An das erste Treffen
erinnert sich Fabrikant Kambly, als ob es gestern gewesen wäre.
«Schang
Hutter empfing mich am Tor», erzählt er. Der Künstler kurvte
voraus, Kambly lief hinterher. Hinein in Hutters Werkstatt, geradeaus
zu farbigen Holzfiguren mit schmalen Armen und spitzen Nasen, die so
typisch sind für Hutters Werk: «Meine acht, neun letzten
Holzfiguren», sagte Hutter, alle anderen habe er verkauft. Auf der
Werkbank standen Ajax Glasreiniger, Holzleim Express, Terpentinöl.
Handschuhe lagen herum, Feilen, Sägen, Schwämme, Schnittmesser. Die
Flasche Mineralwasser war halb gefüllt, der Plastikbecher leer, die
Lithopresse museumswürdig. Auf der linken Bank eine kleine liegende
Holzfigur, bereit zum letzten Schliff. Alles machte den Anschein, als
ob der Bildhauer noch aktiv gewesen wäre. «Arbeiten», sagte Hutter
sein Leben lang, «heisst verarbeiten.»
Kambly
musste nicht direkt fragen, Hutter sagte es von allein: Zurzeit sei
er zu schwach, um zu werken. Aber bald fange er wieder an. «Zuerst
mit Zeichnungen, dann mit Lithografien», erklärte er auf dem Weg
zum Lift. Den Knopf wollte er selber drücken, er liess sich noch nie
gern helfen. Ein Schang Hutter rappelt sich selber auf. Sieben
Hirnschläge hat er erlitten. Deshalb spricht er etwas schleppend.
Doch es gelingt ihm weiterhin, sich selber zu waschen und die Kleider
selber anzuziehen.
Auch
die Lifttür stiess er selber auf. Er wollte Oscar Kambly den ersten
Stock über der Werkstatt zeigen. Dort oben befindet sich bis heute
das Lager. Regale voller Gipsfiguren, reihenweise Bronze-Statuen auf
dem Boden, lauter Köpfe mit grossen Ohren. Unzählige Zeichnungen,
Lithografien und Gemälde, teilweise gerahmt, sorgsam aufbewahrt wie
in einem Hängeregister. «Alles uralt», sagte der Künstler zum
Biscuit-Hersteller. Das meiste davon hat er in Genua geschaffen, in
der italienischen Hafenstadt, wo es ihm so gefallen hatte wegen dem
Klima und dem Meeranschluss.
«Der
Verletzlichkeit Raum geben», lautet das ewige Motto von Hutters
Kunstproduktion. Kambly ahnte, dass diese Worte bei Hutters
Gesundheitszustand eine neue Bedeutung erhalten haben könnten. Aber
nein: «Meine Themen kommen alle von München», sagte Schang Hutter.
Mit 20, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, hatte er an der dortigen
Kunstakademie das Studium der Bildhauerei gestartet. Die ganze Stadt
zertrümmert, die Überlebenden versehrt, seelisch wie physisch. In
der Umkleidekabine des Hallenschwimmbads war sich Hutter vorgekommen,
als wäre er der letzte Zweibeinige. Diese Verletzlichkeit, die er in
München zu Gesicht bekam, beschäftigt ihn bis heute.
Kambly
folgte Hutter, vorbei an einem verstaubten Hometrainer. Hier habe er
früher pedalt, bald fange er wieder damit an, sagte der Künstler.
Dann zeigte er sein Räumlein, in dem er jeweils ruht. Ein Bett, der
Flachbildschirm misst 62 Zoll, ein
Mikrowellenofen,
die Espresso-Maschine. Hutters Partnerin Ruth Guggisberg stiess hinzu
und servierte Kaffee.
Erst
jetzt kam Kambly auf den Punkt: zur Kunstausstellung Trubschachen.
Heute,
drei Jahre später, fasst er seine Worte zusammen: «Ich erzählte
Schang, was uns in Trubschachen diese Ausstellung bedeutet.» 320
Freiwillige helfen mit, alle leisten ihren Beitrag, von der
Volg-Verkäuferin bis zur Feuerwehr. Jeder nach seinen Möglichkeiten,
alle ehrenamtlich, inklusive Oscar Kambly: «Wir wollen, dass die
grosse Schweizer Kunst ins Dorf kommt, mitten ins Leben», sagt er.
Das Publikum soll ohne Barriere staunend empfinden, ja verwandelt und
«im Herz berührt» werden. Alle vier Jahre während den ersten drei
Wochen in den Sommerferien, wenn die beiden Schulhäuser von
Trubschachen sonst geschlossen wären, strömen Scharen aus allen
Landesteilen hierher – das letzte Mal waren es sagenhafte 36 000.
Die Ausstellung ist selbsttragend, die Firma Kambly will kein Sponsor
sein, nur Helfer.
Schang Hutter musste nicht überredet werden, auf der Stelle sagte er zu, seine Werke zu zeigen. «Die Idee hinter dieser Trubschacher Aktion war mir spontan sympathisch», sagt er heute.
Schang Hutter musste nicht überredet werden, auf der Stelle sagte er zu, seine Werke zu zeigen. «Die Idee hinter dieser Trubschacher Aktion war mir spontan sympathisch», sagt er heute.
So
kam es, dass Schang Hutter diesen Sommer den Aussenraum in
Trubschachen bespielt. Neben der protestantischen Kirche ragt eine
gewundene, zwanzig Meter hohe Stahlkonstruktion in den Himmel. Den
Pausenplatz ziert eine rostige Eisenplastik. Holzmenschen darben vor
einem Emmentaler Bauernhof, aufeinander gestapelt und zusammen
gekettet. Entstanden ist dieses Sujet in Warschau, wohin Hutter 1970
zu einem halbjährigen Studienaufenthalt eingeladen wurde und sich
entfalten durfte. Das kommunistische Regime war nicht erfreut von
dem, was der Schweizer Sozialdemokrat geliefert hatte.
1998
schockte Schang Hutter ganz Bundesbern, als er seine tonnenschwere
Plastik präzis vors Bundeshaus stellte, so dass alle Parlamentarier
einen Bogen drumherum machen mussten. «Shoa» hiess der Kubus. Im
engen Schlitz oben auf dem Deckel waren Skelett-Figuren eingeklemmt –
als Symbol für die Judenvernichtung. Es hagelte Proteste. Über
Nacht entführte eine politische Partei vom rechten Rand den «Stein»
des Anstosses, der in Wirklichkeit aus Stahl bestand.
Diesen
Sommer in Trubschachen steht eine neue Version von «Shoa» im
Eingang das Schulhauses – diesmal in weiss und rot, beschriftet in
Kleinbuchstaben: «meine darstellungen sollten mithelfen, das
ungeheuerliche nicht zu vergessen, damit sich solche verbrechen von
menschen an menschen nicht wiederholen.» Nie will sich Schang Hutter
vorwerfen lassen müssen, zu wenig getan zu haben für den Frieden
auf der Welt. Er ist stolz, dass er das alte Werk nochmals zeigen
darf.
«KZ-Opfer»
heisst seine wohl berührendste Arbeit in Trubschachen. Eine nackte,
abgemagerte Figur, die auf einem Bahngeleise kriechend um Hilfe
fleht. Damit die Bedrohung ganz real wird, wollte Hutter seine
Skulptur auf ein echtes, stillgelegtes Geleise vor Ort verpflanzen.
Das haben «die Bähnler», so der Künstler, verhindert. Und Oscar
Kambly? «Bis zu den obersten Stellen habe ich mich für Schang
Hutter engagiert.» Vergebens.
Als
Kambly nach seinem ersten Besuch in der Werkstatt vor drei Jahren in
sein Auto stieg, wechselte auch Hutter das Gefährt: Vom kleinen auf
den grossen Rollstuhl, seinen «Röndlli». Bis zu 25 Kilometer pro
Stunde wären möglich, doch so viel Gas gebe er höchstens, wenn die
Strasse ganz flach und überblickbar sei, erklärte Hutter und
winkte. Auf gings. Langsam. Zum «Bären» von Attiswil.
Dieser Text erscheint in der "Schweizer Familie" vom 29. Juni
Die Kunstaustellung Trubschachen dauert vom 1. Juli bis 23. Juli 2017
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